Das Tagebuch der Anne Frank

Im St.Galler Kinder-Musical-Theater Storchen fliessen die Tränen

Schwerer Stoff für die Weihnachtszeit: Selbst Regisseurin Bettina Kaegi ist überrascht darüber, wie stark die Emotionen sind, welche die Aufführung von «Das Tagebuch der Anne Frank» bei den Zuschauern weckt.

Das hat es im Kinder-Musical-Theater Storchen noch nicht gegeben. Wenn der Applaus nach der Aufführung verklingt, bleiben die Zuschauerinnen und Zuschauer sitzen. Es herrscht minutenlang Stille. Manche beginnen zu schluchzen. Die Aufführung von «Das Tagebuch der Anne Frank» weckt die Emotionen in einem Ausmass, das selbst Regisseurin Bettina Kaegi überrascht.

Vier Aufführungen sind bereits vorbei, zwei stehen diese Woche noch bevor. Zwei Jahre hat sich Bettina Kaegi mit ihrer Jugendtheater-Klasse darauf vorbereitet. Die Jugendlichen sind zwischen 13 und 16 Jahre alt. Sie sind also im gleichen Alter wie Anne Frank, als sie ihr Tagebuch schrieb. «Das macht die Aufführung so authentisch», findet Kaegi. Hinzu komme, dass es sich nicht einfach um eine Geschichte handle, sondern um die «knallharte Realität».

Die Jugendlichen haben das Stück ausgesucht

Das jüdische Mädchen Anne Frank versteckte sich zwischen 1942 und 1944 mit ihrer Familie in einem Hinterhaus in Amsterdam vor den Nationalsozialisten. Nach zwei Jahren wurde sie entdeckt und ins Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht. Ihr Tagebuch ist eines der meistgelesenen und aufrüttelndsten Bücher über die Judenverfolgung. Es wurde in 70 Sprachen übersetzt und in vielen Ländern auf die Bühne gebracht. Allerdings sei es selten, dass Jugendliche in die Rollen schlüpften, sagt Regisseurin Bettina Kaegi.

Tatsächlich ist das Stück eine überraschende Wahl fürs Kinder-Musical-Theater Storchen, wo sonst Michel in der Suppenschüssel oder Pippi Langstrumpf auf der Bühne stehen.Die Jugendlichen haben das Stück selber vorgeschlagen. Kaegi zieht den Hut vor ihrer Leistung. Die Inszenierung habe ihnen einiges abverlangt.

«Sie sind ans Limit gegangen.»

In der ersten Szene etwa findet Otto Frank, der Vater von Anne und einzige Überlebende der Familie, den Schal seiner Tochter. Der 13-jährige Darsteller drückt die ganze Verzweiflung nicht mit Worten aus, sondern nur mit seiner Atmung.

Sechs Stunden für den Aufbau des Bühnenbilds

Bettina Kägi, die seit über 30 Jahren Regie führt und eine Schauspielschule leitet, sagt: «Ich habe meine ganze Liebe zum Theater in diese Inszenierung gesteckt.» Auch das Bühnenbild liegt ihr am Herzen. Sechs Stunden sind nötig, um es aufzubauen. Es wird nach Vorlagen aus dem Anne-Frank-Museum möglichst authentisch nachgestellt. Auf engem Raum finden sich ein Tisch, acht Stühle, vier Betten, ein Pult, eine Kochnische und ein Sofa. Hinzu kommen hundert Requisiten: Von alten Zeitungen über originale Lebensmittelmarken bis hin zu Gläsern aus den 1940-er Jahren, die Kaegi in einem Brockenhaus aufgestöbert hat.

Vieles, was sonst im Kinder-Musical-Theater Storchen selbstverständlich dazugehört, hat in der Aufführung von Anne Frank nichts verloren: Hier spielt keine Musik, es wird kein Tänzchen aufgeführt. Kaegi sagt:

«Wir wollen nichts verniedlichen.»

Die Jugendlichen halten sich an den Originaltext, der ins Schweizerdeutsche übersetzt ist. Textstellen aus dem Tagebuch werden auf Hochdeutsch vorgelesen. Kein Wort ist improvisiert.

Eine Altersbegrenzung : Zugang erst ab 14 Jahren

Schon beim Erarbeiten des Stücks seien Emotionen hochgekommen, sagt Bettina Kaegi.

«Es gab auch hinter der Bühne Tränen.»

Ihr war wichtig, dass die Jugendlichen verstehen, was sie spielen und sich in ihre Rollen einfühlen können. Deshalb hat sie der Vorbereitung viel Zeit eingeräumt. Sie besuchte mit den Jugendlichen die Synagoge und traf einen Rabbiner.

Drei Kinder aus der Gruppe wollten von Anfang an nicht mitmachen. Das Stück sei zu happig, sagten sie. Aus diesem Grund hat das Kinder-Musical-Theater eine Altersbeschränkung eingeführt. Es empfiehlt das Stück für Jugendliche ab 14 Jahren und für Erwachsene.

Passt das in die Weihnachtszeit?

Für die Regisseurin selbst hat das Stück eine besondere Bedeutung. Sie sei stolz, dass ihre Schüler diese Wahl getroffen hätten. Kaegi hat israelische Wurzeln, ihre Mutter war Jüdin. Dass das Stück in der Weihnachtszeit aufgeführt wird, war zunächst nicht vorgesehen. Sie habe sich deshalb auch Gedanken darüber gemacht, ob ein solches Stück in der Weihnachtszeit überhaupt einen Platz habe, wo es alle schön haben wollten.

Sie kam zum Schluss, dass die Botschaft des Stücks das ganze Jahr aktuell bleibt:

«Rassismus muss aufhören. Man muss aus der Geschichte lernen und loyal durchs Leben gehen.»

Und so schwer der Stoff auch sei, so gehe es darin auch um Trost, Liebe und Kraft und um ein Mädchen, welches trotz allem das Leben liebt. «Das passt doch gut zur Weihnachtszeit.»

Christina Weder (St. Galler Tagblatt 10.12.2019)

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